Warum hat kaum jemand etwas von den Schweige­märschen 2006 in Kassel und Dortmund mitbekommen?

Der NSU ermordete am 4. April 2006 Mehmet Kubaşık in Dortmund und nur zwei Tage später, am 6. April 2006, Halit Yozgat in Kassel. Sie waren das 8. und 9. Todesopfer des NSU. Die Familien Kubaşık und Yozgat kannten sich vorher nicht. Nach diesen Morden an ihren Angehörigen nahmen sie dennoch miteinander und mit der Familie des ersten NSU-Mordopfers Enver Şimşek Kontakt auf. Zusammen organisierten sie Schweigemärsche im Mai und Juni 2006 erst in Kassel und anschließend in Dortmund, um an die Verstorbenen zu gedenken. Die zentrale Forderung: „Kein 10. Opfer!“. Es kamen Tausende, mehrheitlich migrantische Menschen aus türkischen und kurdischen Communities.

Sie wussten schon damals im Jahr 2006, also 5 Jahre bevor dies öffentlich bekannt wurde, dass diese Mordserie rassistisch motiviert war. Die Mordserie des NSU war eine rassistische Anschlagsreihe, die unter migrantischen Menschen Angst verbreiten sollte und genau das erkannten die Betroffenen. Sie forderten „Stoppt die Mörder!“ und fragten „Wo ist die Polizei?“. Dennoch wurden diese Schweigemärsche in den Medien kaum erwähnt. Auch Politiker*innen reagierten nicht. Auch die zahlreichen Hinweise mehrerer Familienangehörigen gegenüber der Polizei, dass nur Nazis die Täter gewesen sein konnten, wurden immer wieder rigoros abgewiesen. Stattdessen wurden bis 2011 in allen Mordfällen und in der gesamtdeutschen Öffentlichkeit die Familien der Verstorbenen verdächtigt.

Rassismus ist nicht nur eine Einstellung von Individuen, sondern in allen Strukturen, Institutionen und Köpfen festgeschrieben. Er hat System. Dazu gehört auch, dass Betroffenen von Rassismus nicht zugehört wird. Aufgrund dessen was sie erleben, können sie rassistische Taten besser einordnen. Doch diese Expertise wird nicht anerkannt. Wäre den Angehörigen zugehört worden, hätten die Mörder deutlich früher gestoppt werden können.

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